Alexander Burenkov über "Healing"

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Während der Pandemie, die zu einer nie dagewesenen Phase der globalen Uneinigkeit, Entfremdung und sozialen Instabilität führte, haben Künstler*innen Ansätze einer erfahrungsbasierten Arbeit entwickelt, die auf Heil- und „Care“-Methoden beruhen. Derartige Praktiken eröffnen eine Möglichkeit für Erholung und Entspannung. Sie wollen die psychische Gesundheit fördern und können dabei helfen, gesteigerte Angstzustände zu überwinden oder einfach zur Ruhe zu kommen. Sie enthalten Anleitungen, wie man die Verbindung mit der Natur und dem eigenen Selbst wiederherstellt, indem man sich des Wissens der Ahnen und uralter Rituale bedient. All das ist bequem in Form von Online-Meditationskursen zuhause am Laptop verfügbar.

Es entstand eine regelrechte Flut von Online-Yoga-Kursen – ob nun in Form gemeinsamer, auf den Gehörtechniken von Pauline Oliveros beruhenden „Deep Listening“-Sessions via Zoom oder wöchentliche digitale Kundalini-Yoga-Kurse, wie sie die Künstler*in Tabita Rezaire in Französisch-Guyana entwickelt hatte, und mit denen sie einen Betrag zur Stärkung der Gesundheit angesichts von Aufgewühltheit und Angst leisten möchte. In ihrer bildnerischen Arbeit beschäftigt sich Rezaire mit den zeitgenössischen Formen des Post-Cyberfeminismus, Techno-Schamanismus und der Aktualisierung uralter heiliger Heilpraktiken – Werkzeuge, die ihrer Meinung dabei behilflich sein können, um mit dem schädlichen Einfluss von Technologie und dem, was viele als „Fortschritt“ begreifen, umzugehen. Angeschlossen ist diese Arbeit an das AMAKABA, ein Heilzentrum tief im Amazonas-Regenwald, in dem eine Vision Rezaires Realität wird. Dieses Zentrum ist ein Ort ganz ohne „Information Overload“. Es bietet Raum für Gemeinsamkeit und therapeutische Praktiken am Schnittpunkt von Wissenschaft, Kunst und den spirituellen Ritualen der indigenen Völker Lateinamerikas. Eine weitere ausgebildete Yoga-Lehrerin, die russische Künstlerin Sofya Skidan, dekonstruiert in ihren Installationen und Performances die Asanas des Hatha- und Ashtanga-Vinyasa-Yogas. Sie verschmilzt dazu fernöstliche spirituelle Praktiken mit posthumanistischer Theorie, reflektiert dabei komplexe Themen wie die Klimakrise und die ökologische Instabilität des Anthropozäns und wirft die Frage nach einem neuen Verständnis von Identität im Kontext technogener Kulturen auf.

Andere Künstler*innen kritisieren zwar, dass die Wellness-Industrie mit dem Kapitalismus verquickt ist, erkennen aber dennoch den zentralen Stellenwert der Selbstfürsorge an und versuchen entsprechend zu arbeiten. In einem Projekt, das für die Online-Ausgabe der 13. Gwangju Biennale in Auftrag gegeben worden ist, antwortete die polnische Künstlerin Ana Prvački auf die weltweiten, von der Pandemie angestossenen Umwälzungen mit drei Videos, die in Art eines „Faceliftings“ funktionieren: Diese Serie vermarktet von ihr entwickelte Produkte, die gegen Pandemie-induzierte Angstzustände helfen sollen, darunter eine CGI-Multimask, die zugleich verschönert, schützt und im Falle eines Nervenzusammenbruchs auch noch ein sicheres Versteck bietet. Prvački nähert sich der Wellness-, Heil- und Schönheitsindustrie mit Ironie und in einer Sprache, die sie aus der Start-Up- und Werbewelt übernimmt – und ist doch überzeugt, dass Fürsorge und „Care“ unverzichtbar sind. Ihr Interesse an Wellness ist aufrichtig gemeint: Regelmässig stellt sie Hauspflege und Rezeptempfehlungen umsonst bereit. Und ihr eigenes Haus hat sie mit allerlei Pflanzen in einen wahren Dschungel verwandelt.

Die körperliche und geistige Gesundheit werden in der Kunstwelt leider viel zu wenig ernst genommen. Die Kunstwelt sollte die Pandemie als Möglichkeit begreifen, ihre Werte und Prioritäten zu überdenken. Sie sollte sich von Künstler*innen inspirieren lassen, die mit Heilpraktiken und „Care“-Methoden arbeiten, und sich an einem nachhaltigeren und regenerativeren Modell ausrichten.

–Alexander Burenkov
(Übersetzt von Dominikus Müller)

Alexander Burenkov ist unabhängiger Kurator, Kulturproduzent, Kunstkritiker und Autor. Seine Arbeit bewegt sich zwischen dem Feld der zeitgenössischen visuellen Kultur und sozio-technischen Systemen wie Ökologie und Internet. Er unterrichtet kuratorische Recherche und das Kuratieren zeitgenössischer Kunst an der Sreda-Obuchenia-Schule, der Moscow School of Contemporary Art und der RMA Business School. Im Juni 2021 startete er die App Yūgen, die von der Porto Design Biennial unterstützt wurde und die eine stetig wachsende Zahl künstler*innenangeleiteter Übungen präsentiert, mit denen die Verbindung zur Natur und dem eigenen Selbst erneuert werden kann.

Alexander Burenkov, Foto: Timofey Kolesnikov
Alexander Burenkov, Foto: Timofey Kolesnikov

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