Andrew Maerkle über "Witnessing"

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Unmittelbar nach dem Tohoku-Erdbeben vom 11. März 2011 und dem darauffolgenden Tsunami und Atomunfall fragten sich Künstler*innen und Kunstarbeiter*innen in Japan wie man auf eine derartige Katastrophe angemessen reagieren könne. Viele organisierten daraufhin Wohltätigkeits-Auktionen und Crowd-Funding-Kampagnen. Einige, wie die Guerilla-Kunstgruppe Chim↑Pom, stellten die offizielle Lesart des Nuklearunfalls infrage, und schlichen sich ins Sperrgebiet rund um das Kernkraftwerk Fukushima Daiichi, um dort selbst zu filmen. Andere, deren Leben direkt von der Katastrophe betroffen war, wie die Fotograf*innen Lieko Shiga und Naoya Hatakeyama, verarbeiteten ihre Erfahrungen in elegischen Projekten, die mit lokalen Communities und in konventionellen Ausstellungs-Settings gleichermassen realisiert wurden. Eine ganze Kohorte japanischer Künstler*innen begann sich in ihrer Arbeit mit sozialen und politischen Themen zu beschäftigen. Und doch stellte sich im Lauf der Zeit heraus, dass für Künstler*innen eigentlich nichts wichtiger ist, als eben das zu machen, von dem man überzeugt ist, dass man es machen muss.

Verglichen mit der aktuellen COVID-19-Pandemie, die sich in Zeitlupe rund um die Welt entfaltet und deren Auswirkungen wir in weiten Teilen noch gar nicht erfassen oder registrieren können (ganz einfach, weil wir noch keine Perspektive gefunden haben, um sie in den Blick zu nehmen), hat die 3/11-Katastrophe eine fast verständliche narrative Eindeutigkeit und verfügt über ein eindeutiges Epizentrum, das in ikonischen Bildern und Geschichten festgehalten werden konnte. Aber eben nur „fast“ – denn natürlich ist 3/11 noch lange nicht vorbei. Im Laufe der Jahre verstetigte sich die Katastrophe in Form von Nachbeben, die irgendwann so alltäglich wurden, dass die örtliche Bevölkerung sie gar nicht mehr richtig wahrnahm. Sie ist unterschwellig in der Normalisierung der nuklearen Kernschmelze präsent, die nach wie vor nicht eingedämmt ist – ein nie enden wollender Ausnahmezustand. Und in den Leben der Überlebenden, die mit ihren Verlusten und ihrer Trauer auf je eigene Art und Weise fertigwerden müssen, hallt sie schliesslich fort in unerzählten Geschichten (Kinder, die ohne Eltern aufwachsen, Eltern, die ohne Kinder alt werden, Alte, die kein Zuhause haben, in das sie zurückkehren können). Inmitten der andauernden Unsicherheit der Pandemie und der einhergehenden geopolitischen Destabilisierung wäre es töricht zu glauben, dass das System zeitgenössischer Kunst da weitermachen kann, wo wir aufgehört haben, wissen wir doch noch nicht einmal, wie unser Alltag aussehen wird. Zudem scheint die alte neoliberale Ordnung, in deren Rahmen der internationale Biennalen- und Kunstmessezirkus stattfand und all die Galerie- und Museumszweigstellen gegründet wurden, kurz vor dem Zusammenbruch zu stehen und Autokratien mit kapitalistischer Prägung Platz zu machen. Was bitte soll „Rückkehr zur Normalität“ für die Menschen in Hong Kong bedeuten, die nun, unter dem neuen Chinesischen Sicherheitsgesetz, ins Gefängnis geworfen werden können, wenn sie für ihre politische Überzeugung eintreten? Was soll sie für diejenigen in Thailand bedeuten, die auf Grundlage eines alten Majestätsbeleidigungsgesetz belangt werden können, wenn sie Verfassungsreformen fordern? Und was für die Protestierenden in Kolumbien, Myanmar oder Palästina, die den Tod in Kauf nehmen, wenn sie gemeinsam auf die Strasse gehen? Oder auch für People of Color in den USA, die seit beinahe 400 Jahren von der White Supremacy verfolgt und terrorisiert werden? Einmal mehr wird klar, dass Geschichte, ist man hineingeworfen und durchlebt sie tatsächlich, „stets mittendrin“ stattfindet, wie man mit Ursula K. Le Guin sagen könnte.

Ich denke, dass der Begriff der „Zeugenschaft“ dabei helfen kann, zu verstehen, vor welchen Herausforderungen die kommende Kunst steht. Zeugenschaft gründet sich für gewöhnlich auf dem „Sprechen“, folgt aber ihrer ganz eigenen Logik der Verzögerung und arbeitet mit gedehnten Zeitlichkeiten und Frequenzwechseln. Das Zeugnis formuliert das Versprechen, dass man selbst dann, wenn man angesichts von Machtmissbrauch oder gewaltigen Ereignissen nicht direkt handeln kann, immer noch die Möglichkeit hat, diese Umstände zu bezeugen, und zwar selbst noch nach dem Tod – und auf Wegen, die heute noch nicht einmal existieren. Das gilt für den Mut von Kim Hak-sun, die 1991, und damit ein halbes Jahrhundert nach der Tat, dem Stigma und der Vorverurteilung trotzte und die japanische Regierung in einer (letzten Endes niedergeschlagenen) Sammelklage für Menschenrechtsverletzungen im Zweiten Weltkrieg zur Rechenschaft ziehen wollte; und es gilt für Saidiya Hartmans 'Venus in the archive', deren Mord während der Middle Passage 1791 als „zur Unzeit von einer falschen Zeugin erzählten Geschichte“ dem Vergessen anheimgefallen wäre – hätte Hartman nicht beständig die Grenzen dessen verschoben, was wir als historisches Narrativ anerkennen.

Lasst uns nicht vergessen, dass Kunst – als eine Form der Zeugenschaft – gerade dann Ermächtigung bedeuten kann, wenn die Dinge aus den Fugen geraten sind.

–Andrew Maerkle
(Übersetzt von Dominikus Müller)

Andrew Maerkle ist Autor, Redakteur und Übersetzer. Er lebt in Tokyo, ist Deputy Editor des zweisprachigen Online-Kunstmagazins ART iT und schreibt für internationale Publikationen wie frieze und Artforum. Zwischen 2020 und 2021 war er Gründungschefredakteur von Art Platform Japan, einem Übersetzungsprojekt, das von Japans Agentur für kulturelle Angelegenheiten ins Leben gerufen wurde. Das von ihm übersetzte Buch 'Kishio Suga. Writings, vol. 1, 1969–1979' erscheint in Kürze bei Skira.

Andrew Maerkle, Foto: Yukiko Koshima
Andrew Maerkle, Foto: Yukiko Koshima

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