Àngels Miralda über "Reform"

Es war alles andere als ein verlorenes Jahr. Es erscheint höchstens so, wen man an der weitverbreiteten Geringschätzung einer Zeit festhält, die gerne mal „unproduktiv“ genannt wird. In Wahrheit aber war es eine Zeit zum Nachdenken, Bewerten und zum Aufbau, eine Zeit, uns erneut zu überlegen, wie wir die Dinge machen, tun und sehen. Solange alles rund läuft, bleiben Institutionen und Menschen in ihren Routinen gefangen. Erst ein plötzlicher Schock lässt die althergebrachten Fehler in der gutgeölten Maschine sichtbar werden.
Zurzeit reagiert die zeitgenössische Kunst auf eine ganze Reihe von Schocks auf einmal. Die aktuelle Situation ist geprägt von gleichzeitigen Kämpfen gegen Rassismus und für Geschlechtergerechtigkeit, für die Inklusion von körperlich unterschiedlich Befähigten und für mehr Neurodiversität; geprägt von der Schaffung von Plattformen für queere und marginalisierte Geschichtsschreibungen und ökologischen Überlegungen, von der Akzeptanz andersartiger Erzählungen, von Einbindung, Hilfsbereitschaft, Freundschaft und Vertrauen. Überall geht es letztlich um ein und dasselbe: institutionelle und gesellschaftliche Reform. Momentan sind wir froh und doch auch erschöpft. Das Ende des zeitweiligen Lebens auf Distanz ist absehbar. Eine verwandelte Welt zeichnet sich ab, auch wenn das Risiko, zur Ignoranz der Vergangenheit zurückzukehren, groß ist. Die Communities der Kunstwelt, darunter all die Künstler*innen, Kurator*innen, Museumsdirektor*innen und Kulturarbeiter*innen, sehen sich mit der Notwendigkeit konfrontiert, zwischen guten und schlechten Praktiken zu unterscheiden. Wir müssen nun auf einfachem und direktem Weg Freude verbreiten und andere mit guter Energie anstecken, um eine einladendere, von größerer Akzeptanz geprägte Zukunft zu gestalten. Die Kritik selbst ist zum Beispiel eine rostige alte Maschine: Ist sie konstruktiv? Mit welchem Ziel wird Kritik geäussert? Wurzeln opportunistische und destruktive Formen von Kritik nicht in denselben schlechten alten Praktiken und demselben Individualismus wie die Formen, die sie eigentlich kritisieren möchten? Viele junge Galerien wurden mit solchen Ideen im Kopf gegründet. Um beispielsweise die Art und Weise zu hinterfragen, wie man Künstler*innen vertritt, und neue, hierarchielose Formen zu etablieren, arbeiten sie eher in Communities zusammen statt entlang ökonomischer Raster. Sie unterstützen sich gegenseitig, fördern Wachstum und entwickeln ein künstlerisches Ökosystem zum Wohl aller. Gemeinsamkeit. Heute beruhen ökonomische Beziehungen zunehmend auf Vertrauen und Freundschaft. Die alten Avantgarden haben sich rund um Manifeste und gemeinsame Ideen organisiert, die neuen Generationen entstehen rund um lokale Szenen und soziale Bande.
Ich freue mich darauf, in den kommenden Monaten Ausstellungen und künstlerische Ansätze zu entdecken, die produktiv ihren Teil zur permanenten Reform beitragen; die auf positive Art und Weise, konstruktiv und unwiderruflich, die existierenden Strukturen verändern; die die jüngere Vergangenheit durcharbeiten und bessere Zukünfte entwerfen; und die an den fragilen Planeten denken, auf dem wir leben, und jene Sensibilität an den Tag legen, mit der wir allen Arten begegnen müssen. Wir müssen nicht nur allgegenwärtige schlechte Praktiken identifizieren, sondern auch die guten hochhalten. Jetzt ist der Zeitpunkt, an dem aus Haltung Reform werden könnte: When Attitudes Become Reform.
–Àngels Miralda
(Übersetzt von Dominikus Müller)
Àngels Miralda ist Autorin und Kuratorin mit einem Interesse an den der Politik materieller Praktiken. Momentan nimmt sie am De Appel Curatorial Programme 2020–21 teil. Jüngst von ihr kuratierte Ausstellungen waren in der Tallinn Art Hall, dem International Centre for Graphic Art (MGLC), Ljubljana, dem Latvian Centre for Contemporary Art in Riga und dem Museum of Contemporary Art in Santiago de Chile zu sehen. Sie schreibt unter anderem für Artforum, Collecteurs Magazine und Arts of the Working Class.