Cindy Sissokho über "Dismantle"

Für einige von uns bedeutet die Pandemie: überleben, reflektieren, dekonstruieren oder sogar ganz von vorne beginnen. Wir befinden uns an einem Moment, an dem sich aufgrund der Ungleichheit der Abstand zwischen Menschen und Orten einmal mehr vergrössert hat, die Gräben tiefer geworden sind – das Resultat unseres Versagens, gemeinsam Verantwortung zu übernehmen. Die zeitgenössische Kunstwelt ist eng verwoben mit diesem Bild, es spiegelt sich in ihr wider, insbesondere, wenn wir uns seiner Genese zuwenden.
Mit diesem Gedanken im Hinterkopf stellt das Zerlegen einen dringend notwendigen Akt dar, um die Strukturen, Systeme und Institutionen, die die Gegenwart der zeitgenössischen Kunst bestimmen, wieder in Gang zu bringen. Angesichts eines Systems der Inklusion und Exklusion, das es ermöglicht hat, viele mundtot zu machen, ihre Existenz zu verleugnen oder ihnen generell Sichtbarkeit oder Handlungsmacht innerhalb bestimmter Räume abzusprechen, müssen nun die Stimmen der Marginalisierten, der „Rassifizierten“ und der „Anderen“ ins Zentrum der Kunstwelt gebracht werden – sie sind es, die die Welt von Grund auf neu denken und die in ihren künstlerischen Praktiken neue Bilder erfinden, neue Diskurse anstoßen, um Wissen zugänglich zu machen und andere Ziele zu definieren.
Auf internationaler Ebene haben die Kunstinstitutionen gezeigt, wie unwichtig sie angesichts der jüngsten und nach wie vor aktuellen politischen Ereignisse letztlich sind – und wie wenig sie sich engagieren. Zu beobachten war stattdessen die Kommodifizierung antikolonialer und antirassistischer Bewegungen, ebenso ein Schweigen und die Weigerung, sich für Gerechtigkeit einzusetzen, auch wenn diese Institutionen systemisch gesehen die Macht dazu hätten. Die Räume dieser Institutionen tragen und produzieren zudem die Kultur und das Wissen, die über hegemonialen Diskurse, den Kanon und deren Darstellung entscheiden. „Zerlegen“ bedeutet hier nicht zuletzt, die Logiken und Prozesse zu benennen, nach und in denen Kultur und kulturelle Politiken heute operieren.
Es ist dringend notwendig, die tagtäglich von diesen kulturellen Politiken implementierten strukturellen Methoden der Auslöschung zu identifizieren, die dort am Werk sind, wo von Zensur, kultureller Appropriation, Distribution und ein fehlender finanzieller Zugang für Künstler*innen und Praktiker*innen die Rede ist, die sich in der Peripherie finden. Es ist genauso notwendig, sich mit der Verteilung von staatlichen und privaten Mitteln zu beschäftigen. Dann landet man schnell bei der Frage, wer denn überhaupt in den Genuss kommen kann, das zu produzieren und mit Wert aufzuladen, was als „Kultur“ gilt. Konsequenterweise bezieht sich das Zerlegen auch auf ein Wissen und auf Ansätze, die zur Zerschlagung kolonialer Narrative und Plattformen, die eine Überprüfung von Menschen und Praktiken ermöglichen, ebenso beitragen wie zur Verdammung der hochgradig kontaminierten Sprache, die der zeitgenössischen Kunst innewohnt.
Beginnend bei den Wurzeln, öffnet die Aussicht auf das Zerlegen und Dekonstruieren der gegenwärtigen Strukturen der zeitgenössischen Kunst einen Raum für eine dauerhafte, zukünftige Handlungsmacht. Und zwar in Gestalt eines Archivierens verlorener Geschichten, einer Erweiterung von Vorstellungen des Wissens und der Kultur sowie der Demokratisierung der Formen von Produktion, Finanzierung, Zugang und vielem mehr – eine Handlungsmacht, die marginalisierten Geschichten und Stimmen eine Heimat geben könnte; und einen Raum, in dem nicht ständig alles verhandelt werden müsste.
–Cindy Sissokho
(Übersetzt von Dominikus Müller)
Die Kulturproduzentin, Kuratorin und Autorin Cindy Sissokho hat ein spezifisches Interesse an den intellektuellen, politischen und künstlerischen Aspekten von Dekolonialität innerhalb von Kunst und Kultur. Ihre Arbeit wird vom Anliegen vorangetrieben, die Epistemologien und eine neue Kulturproduktion aus dem globalen Süden zu erweitern und zu verbreiten. Gegenwärtig ist sie Kuratorin und Special Projects Producer bei New Art Exchange in Nottingham (Vereinigtes Königreich).