Estelle Hoy über "Cloudland"

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Die kürzeste Verbindung zwischen dem Realen und dem Imaginären ist die zeitgenössische Kunst; gegenwärtig ist sie damit beschäftigt, sich selbst neu zu bestimmen und sich ein Bild von der aktuellen COVID-19-Situation zu machen, heimgesucht wie diese ist von stetig mutierenden Gegensätzen: Dichtung und Wahnsinn, Tod und Montage, Rechtschaffenheit und Niedertracht, Chaos und seine Permutationen. Nichts bleibt, wie es ist, und alles ist, was es ist. Eine nicht-lineare Erzählung, verdampfend, immateriell, mit ständigen Rückbezügen auf sich selbst, die immer weitere Spiralen der Realität zieht. Ein Zyklus ist nicht eher zu Ende als einer seiner Aspekte – Vergangenheit und Zukunft – neu vorgeschlagene Konfigurationen. Der einzig wahre Weg, zeitgenössische Kunst aktuell zu beschreiben, im Angesicht dieser Fehlkreation, wie wir sie zu unseren Lebzeiten noch nicht erlebt haben, wäre es, einen Namen zu erfinden, abgedroschen, losgelöst, feucht wie der Tau, immer noch. Ich nenne es, vorläufig, "Cloudland".

In Cloudland gibt es keinen Unterschied zwischen dem Realen und dem Imaginären. Cloudland ist weniger Thema und mehr ein geschaffener Charakter. Eine Persona, ausgeheckt von unserem kollektiven Unbewussten als Antwort auf die Sackgasse, in der wir uns befinden: Schleier von Zirruswolken in Strichpunkten, unvorhersehbare Phasen der Venus, pinke Saturnmondkunst, Fortsetzungen allesamt jener zutiefst ambivalenten, dunstigen und paradoxen Natur des Jetzt. Und das heißt nichts anderes als: Kunst im Dazwischen. Zwischen der Materialität und dem Ephemeren, dem Übergang und der Gleichheit, zwischen Online und Offline, einer honigartigen Zähe und vagen Klebstoffhaftigkeit, zwischen Patt und Patt: robuste Grenzstädte der Kunst, die, versprengt unter Joshua Trees, rosafarbene Kumuluswolken aushauchen oder Stratuswolken oder (;)

Das Reale und das Imaginäre fallen in eins, um eine Art Avatar von Cloudland selbst zu formen, Cloudland in die Kunstwelt hineinzupressen und es selbst zur Existenz zu träumen. Cloudland möchte die Realität verzerren, nicht sie abbilden. Es geht um eine Ästhetik der unverwüstbaren Weine des Sonnenlichts, von Ichimoku Clouds, die vage Vorhersagen treffen, der trunkenen, ländlichen Zwangsvollstreckung – eine Galileo-förmige Trägheit, die den freien Fall umarmt und dabei wirklich und ehrlich etwas aus sich macht. Die Ästhetik von Cloudland ist verdammt anpassungsfähig; Cloudland befindet sich am Kreuzungspunkt möglicher Ausstellungen und Vernissagengespräche in der Cloud, lebt von mageren Ausbeuten, traumartiger Schlafstarre und einer Wahrscheinlichkeit wie im Lotto. Kunst, die das Verdampfen zum Beruf gemacht hat und die misstrauisch genug ist, einen Plan B zu haben, und zwar den: auf einem Queensize-Bett in Queens sitzen und mit kleinen Tellern voller mexikanischer Chorizo und Cajun Chicken klappern. Unter den Himmeln von 'Himmel und Huhn', unnahbar, glitschig und verdampfend – diese unheilige Dreifaltigkeit –, ätzen wir Silhouetten der Äquivalenz ein und sind doch ständig im Fluss.

Wir werfen die Regeln des Realen und des Imaginären in die Luft wie Konfetti.

Es gibt Magnetismus in den Himmeln ohne Titel, sie verdampfen, diese Himmel, und bilden sich immer wieder neu – von Hiroshiges Haiku-Wolken (俳句雲) bis zum lettischen Nimbus von Vija Celmins. Wenn etwas sicher ist in Cloudland, dann die beständige Fähigkeit zur Wiedergeburt, die Fähigkeit, Kunst und Dissens in einer Zeit zusammenzudenken, in der Objekte in einer porösen Fantasiewelt steckenbleiben, in einem gewaltigen Schlaraffenland à la Yosemite: ein Kunstwelt-Glitch, der uns alles andere als besiegt hat. Cloudland ist voll betriebsfähig. Kunst bleibt, fragt Fragen, beständig, verhandelt, erfindet Kunst aus einem kollabierenden Neutronenstern.

'Baise-moi', sagt Cloudland.

Zeitgenössische Kunst ohne Widerstandsfähigkeit ist nichts. Kunst bleibt, unter allen Umständen, und produziert ein Meisterwerk um eine Uhrzeit, zu der aus Objekten Räume werden und aus Räumen Objekte. Cloudland ist kollektiver Protest, ist Kreation aus dem Fegefeuer, bedenkt man seinen kunstartigen Zwischenstatus: eine launische Stratosphäre für die Kunst, um den Raum selbst in ein Kunstwerk zu verwandeln. Immer, so scheint es, geht es in Cloudland um die Kunst, doch in Wahrheit geht es um das Leben. Die Rückläufe von Zukunft und Vergangenheit, die ansteckenden Sackgassen und Ausweglosigkeiten, die Unmittelbarkeit und der eisige Affront haben konkrete Folgen, also haben wir, voll des Trotzes, daran herumgedreht, wo es nur geht.

Voll bekleidet, mit einem 'La Dolce Vita'-Kätzchen auf dem Kopf, waten wir in das Wasser eines römischen Brunnens, um dort Münzen zu sammeln, die irgendjemand aus einer Laune heraus rückwärts über die Schulter geworfen hat, und nehmen unsere Wünsche in eigene Hände.

Wir sind so dermassen wichtig, wir schufen ein Kunstland aus dem Nichts.

–Estelle Hoy
(Übersetzt von Dominikus Müller)

Estelle Hoy ist Autorin und Kunstkritikerin. Sie lebt in Berlin. Ihr letztes Buch 'Pisti, 80 Rue de Belleville' erschien 2020 bei After 8 Books, Paris, mit einem Vorwort von Chris Kraus, der Autorin von 'I Love Dick' und 'Torpor'. Ihr jüngstes, gemeinsam mit Sabrina Tarasoff verfasstes Buch 'Midsommer' erscheint 2021 bei Mousse Publishing, Mailand

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