Jeppe Ugelvig über "Dread"

Angesichts der letzten 18 Pandemie-Monate mit all ihren Lockdowns in den Städten, Ländern und Regionen dieser Welt kann das Kunstsystem gar nicht anders als neu zu starten. Quasi über Nacht wurden die üblichen Routinen aus Ausstellungen, Messen und Biennalen angehalten – für die einen eine lang ersehnte Pause, für die anderen eine gefährliche Katastrophe. Tausende Künstler*innen und Kunstarbeiter*innen wurden arbeitslos, und die Risse in diesem System, das wir „die Kunstwelt“ nennen, wurden immer tiefer, die Verwerfungen immer deutlicher. Überall auf der Welt erhoben sich die Menschen gegen systemischen Rassismus, Geschlechterdiskriminierung, Arbeitsausbeutung und Kriegstreiberei und erhöhten damit den Druck auf die Kunstinstitutionen, sich endlich verantwortlicher zu verhalten – auch wenn das System, in dem sie existieren, so etwas nur schwer oder gar nicht zulässt. Von der Kunst selbst wurde ebenfalls erwartet, dass sie sich zu diesen „Culture Wars“ verhält oder sie repräsentiert. Dabei ist das Mittel der Repräsentation nach Meinung vieler heute nichts weiter als eine taktische Falle, um Identitäten zu verflachen, sie zu romantisieren, zu kommodifizieren und letztlich Profit aus ihnen zu schlagen. Das Resultat: Viele Angehörige dieses Systems haben mit einem überwältigenden Gefühl der Furcht zu kämpfen – das beklemmende Resultat all der Ängste, des Bangens und all der Bedenken, wie man sich denn bitte in einem System bewegen soll, dass an den Rändern auszufransen und im Inneren zusammenzubrechen scheint.
Wenn COVID-19 der Kunstwelt also eine Pause verschafft hat, dann muss die Frage lauten: Pause von was? Meiner Meinung nach ist das zentral, nun, da die Kunstwelt erneut erwacht und wieder hochfährt. Was haben wir während der letzten 18 Monate dieser viralen, sozialen, ökonomischen und politischen Krise über dieses seltsame Ding namens „zeitgenössische Kunst“ gelernt? Glauben wir noch an seine Praktiken, an seinen Auftrag, seine Räume, seine Menschen? Wollen wir an seinen verschiedenen Formen der Wertschöpfung teilnehmen, uns seiner Möglichkeiten des Ausdrucks bedienen? Was vermissen wir mehr als je zuvor? Und von was sollten wir uns besser verabschieden?
Viele ergreift angesichts des Gedankens an eine Rückkehr zum „Business as usual“ in der Kunst Furcht: all die normativen Formen des Machens, Zeigens und Austauschens, die nun nicht mehr nachhaltig erscheinen, unethisch, oder gar überhaupt nicht mehr vertretbar. Und während das Virus rund um den Globus weiter wütet, fürchten nicht wenige dauerhafte Einschnitte und Beschränkungen von Kunst und Leben – eine postpandemische Kunstwelt, deren Zukunft gekennzeichnet ist von fortschreitender Privatisierung (Kürzungen der öffentlichen Kunstförderung), Finanzialisierung (NFTs) und Korporatisierung (Mega-Galerien). Will die Kunstwelt nach der Pandemie eine Chance haben, so muss sie diesem Gefühl der Furcht entgegentreten. Sie muss die materiellen Grundlagen ihrer eigenen Produktion hinterfragen und nichts, absolut gar nichts, darf dabei von den Kunstproduzent*innen und -vermittler*innen als gegeben hingenommen werden. Man muss mutig sein und revidieren, erneuern, revolutionieren; muss dem schnellen Urteil und der einfachen Lösung widerstehen; und darf Veränderung nicht als etwas Symbolisches begreifen, sondern als etwas zutiefst Materielles, Infrastrukturelles und Gelebtes. Was wäre denn andernfalls der Grund, warum wir so etwas machen wie – Kunst?
–Jeppe Ugelvig
(Übersetzt von Dominikus Müller)
Jeppe Ugelvig ist ein unabhängiger „Scholar“ und Kurator. Zu seinen letzten Ausstellungen gehören „Endless Garment“ im X Museum, Peking, und „Witch Hunt“ in der Kunsthal Charlottenborg, Kopenhagen. Sein erstes Buch 'Fashion Work: 25 Years in Art and Fashion' erschien 2020. Ugelvig ist Gründungschefredakteur von Viscose.