Lauren Gabrielle Fournier über "Autotheory"

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Der Begriff, der die momentane Situation in der zeitgenössischen Kunst am besten auf den Punkt bringt, ist meiner Meinung nach „Autotheorie“. Einfach gesagt, beschreibt Autotheorie die Verschmelzung von Autobiografie mit theoretischen und philosophischen Praktiken. Autotheorie erlaubt es Künstler*innen, ihre verkörperten, subjektiven und gelebten Erfahrungen und Perspektiven genauso in die Arbeit einfliessen zu lassen wie Kritikfähigkeit, Genauigkeit und Recherche. Das macht sie für zeitgenössische Künstler*innen ebenso wie für Kurator*innen und Kritiker*innen zu einem attraktiven Werkzeug, um sich zu engagieren und in einer Welt zu navigieren, die von „Recherche-Kreation“ und „praxisbasierter Forschung“ ebenso bestimmt ist wie von den post-konfessionellen Technologien einer omnipräsenten sozialmedialen Landschaft und den tückischen Forderungen des Neoliberalismus nach Selbstvermarktung und einem konkurrierendem Individualismus; Forderungen, die wiederum anti-neoliberale Ansätze hervorbringen, die an kollektivem Handeln und Verflechtungen interessiert sind. Von einigen Künstler*innen habe ich inzwischen gehört, dass Autotheorie „der Begriff ist, von dem sie nicht wussten, dass sie ihn brauchten“, ein Begriff, der beschreibt, wie sie schon längst arbeiten – nur eben, ohne es benennen zu können.

Als Idee oszilliert Autotheorie zwischen Theorie und Praxis, zwischen Kunst und Leben, der Arbeit und dem Selbst. In der Praxis kann Autotheorie die Form eines kritischen, selbst-bewussten „Narzissmus“ annehmen, und zwar im Sinne eines direkten Blicks auf das eigene Selbst, einer Selbstzuwendung, die auch immer ein gewisses Vergnügen beinhaltet. Meist schliesst Autotheorie aber eine Aufmerksamkeit für und Einbeziehung von anderen ein, egal ob in Form textlicher Zitate oder der direkten Bezugnahme. Autotheorie regt Künstler*innen dazu an, neugierig zu sein und zu hinterfragen, wen und was sie zitieren, worauf sie sich in ihren Nachforschungen und Praxen berufen und welche Politiken, Ästhetiken und Ethiken sich dahinter verbergen. Meiner Meinung nach ist dieser Ansatz gerade jetzt in der zeitgenössischen Kunst von besonderer Bedeutung, da er Künstler*innen ermöglicht, die Komplexität ihres eigenen verkörperten Selbst und ihrer Selbstheit in Beziehung zu ihrer Arbeit zu begreifen – und zwar durch kritische Selbst-Reflexion. Warum mache ich die Arbeit, die ich mache, so wie ich sie mache? Wie wirken sich meine gelebten Erfahrungen in der Welt, sobald ich sie einmal reflektiert habe, in den Formen und Konzepten meines kreativen Schaffens als professionelle*r Künstler*in (oder Kurator*in) aus?

Auch wenn Autotheorie momentan dem Zeitgeist entspricht, hat sie doch eine lange Geschichte in Literatur und Philosophie. Man denke nur an die Entwicklung des Essays von Michel de Montaigne, der im Frankreich des 16. Jahrhunderts dieses Genre unter Verwendung der oft eher tabuisierten ersten Person etablierte, bis zu den autotheoretischen Techniken Frantz Fanons und anderer im frühen 20. Jahrhundert. Oder an die Kunstgeschichte und die Entwicklung des feministischen Denkens von Adrian Pipers konzeptueller Kunst und der Body Art der frühen 1970er-Jahre bis zu Gloria E. Anzaldúas autohistoria-teoría-Schriften aus den 1980er- und 90er-Jahren. Wissen um das Selbst wird hier zu einem zentralen Teil der kritischen Arbeit. In der zeitgenössischen Kunst kann Autotheorie ebenso direkt eingesetzt werden, wenn zum Beispiel Künstler*innen in ihren Skulpturen und Installationen auf mimetische Weise „Zitate“ aus Theoriebüchern oder anderen Texten reproduzieren, wie indirekt, etwa wenn Künstler*innen zur Beschreibung ihrer Praxis eine „Theorie“ heranziehen oder bereits existierende Konzeptionen von „Theorie“ erweitern. Indigene autotheoretische Entwicklungen stellen momentan ein besonders interessantes Beispiel dar: Unter Rückgriff auf ihre eigenen reichen und komplexen Theorie- und Praxisfelder, die jenseits kolonialer Systeme existieren, zeigen sie Wege und Möglichkeiten der Dekolonisierung auf – oder zumindest der Dezentrierung westlicher, aus der kontinentalen Philosophie stammender Theoriemodelle. Ich denke hier beispielsweise an die Kritik, die Zoe Todd vom Standpunkt der Métis und des Feminismus aus am gesamten Feld der „Ontologie“ geäussert hat, die sich indigenes kosmologisches Denken – und hier insbesondere Inuit-Kosmologien – umfassend aneignet hat.

Bemerkenswert ist, dass der Neologismus „Autotheorie“ zwar vom „Auto“ und damit vom Selbst ausgeht, aber deswegen noch lange kein rein selbstreflexives oder reflexives Unterfangen ist. Das „Selbst“, soviel wird immer wieder klar, ist stets mehr als es selbst. Die Autotheorie kann so (wie übrigens auch ihre Kritiker*innen) jedem einfachen Rückfall in den Solipsismus widerstehen. Oft lässt Autotheorie sogar sichtbar werden, wie sehr das Selbst immer schon verstrickt ist und mit vielen anderen in Austausch steht, sei es durch private oder professionelle Kontakte oder anderweitig – und dabei sind auch die symbiotischen Beziehungen mit den Mikroben gemeint, die auf unserer Haut und in unseren Eingeweiden leben. Zeitgenössische Künstler*innen, die sich mit der Autotheorie auseinandersetzen, nehmen dieses Wissen – und arbeiten auf vielfältige Weise damit weiter.

–Lauren Gabrielle Fournier
(Übersetzt von Dominikus Müller)

Lauren Fournier ist Autorin, Kuratorin, Videokünstlerin und Filmemacherin. Sie lebt in Toronto. In ihrer Arbeit bringt sie künstlerische Praxis, Ausstellungsmachen, kritisches und kreatives Schreiben, Fermentierungs- und Lebensmittelpraktiken, sozial-responsive Programmgestaltung und Kollaboration zusammen. Ihr erster Roman, ein autofiktionaler Text entlang von Chris Kraus’ 'I Love Dick', erscheint in Kürze bei Fiction Advocate. Ihre erste akademische Publikation in Buchlänge, die Monografie 'Autotheory as Feminist Practice in Art, Writing, and Criticism' erschien im Frühjahr 2021 bei The MIT Press.

Lauren Fournier, Foto: Lee Henderson
Lauren Fournier, Foto: Lee Henderson

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