Lucrezia Calabrò Visconti über "At Stake"

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Der Ursprung der Redensart „at stake“ – ins Deutsche am ehesten mit „auf dem Spiel“ zu übersetzen – findet sich angeblich in einer uralten und grausamen Form der Unterhaltung, für die ein Bär an einen Pflock oder Pfosten (engl. „stake“) gebunden wurde und man dann die Hunde auf ihn hetzte. Dann wurde gewettet, auch wenn nicht ganz klar ist, worauf: Darauf, dass der Bär die Hunde tötet, darauf, wie lange der Bär durchhält, oder eine Kombination von beidem. Wie auch immer, vom Geld der Wettenden hiess es, es befände sich „at stake“, also „am Pflock“ – eine direkte Referenz an den Pfosten, an den der Bär gebunden war. Diese Redensart existiert auch heute noch, um damit eine Situation zu beschreiben, in der man etwas Wertvolles verlieren kann. Oft als Synonym für Unsicherheit verwendet, beschreibt „being at stake“ – „auf dem Spiel stehen“ – damit ganz gut die zügellose Finanzialisierung des Lebens, die unsere Gegenwart und den Zustand der zeitgenössischen Kultur bestimmt. „At stake“ unterscheidet sich von „precarious“ (dt. „prekär“, „unsicher“, „instabil“), das ursprünglich von lateinischen prex/precis – „Bitte, Gebet“ – stammt: Die Umstände des „Auf-dem-Spiel-Stehens“ verweisen gerade nicht auf ein asymmetrisches Machtverhältnis, sondern auf die unvorhersehbaren Machtdynamiken, die von verschiedenen, am selben Spiel beteiligten Interessen in Gang gebracht werden. Zudem halten sich hier diejenigen, die von der ganzen Sache profitieren, stets sicher im Hintergrund. Es ist sicher kein Zufall, dass der Begriff „stake“ (im Sinne von „Beteiligung“, „Anteil“) auch im Bereich der Finanzspekulation verwendet wird. In Bezug auf Kryptowährungen bezeichnet „staking“ zudem die zentrale Handlung der Akkumulation und des Zurückhaltens.

Während der letzten Monate haben die Neuausrichtung der Prioritäten im Zuge der Pandemie und das erzwungene Ausweichen in den Bereich des Digitalen das Prinzip des „Auf-dem-Spiel-Stehens“ auf eine neue Ebene gehievt – eine düstere Ahnung griff um sich, dass unsere Avatare und deren virtuelle Existenz die einzig wirklichen Garantien für die Beibehaltung ihrer IRL-Entsprechungen seien. Der Kultursektor blieb nicht verschont. Institutionen und Kunstarbeiter*innen waren gezwungen, sich in diversen Formen der Selbsterhaltung zu betätigen – die chaotische Überproduktion von Online-Content ist da nur ein Auswuchs. Zugleich wurde dem Kunstsektor aber auch vorgeworfen, Teil eben jener Strukturen zu sein, die den Status quo aufrechterhielten. Die unheimliche Vermählung der Dematerialisierung der Kunst mit der Deregulierung der Finanzen mündete gerade nicht in einer neuen Form der Verteilung des Wohlstands. Am Ende kam eine gedopte Hochglanzversion des alten Staking-Systems heraus. Es entbehrt dabei nicht einer gewissen Tragikomik, dass es sich bei einem der bislang teuersten verkauften NFTs um ein 16-Sekunden-Video handelt, das ein goldenes, in einer museumsartigen Glasvitrine rotierendes Gummibärenskelett zeigt. Zeitgleich gingen Kulturarbeiter*innen endlich auf die Strasse und klagten Museen und Institutionen dafür an, seit Jahr und Tag nichts gegen alte und neue Formen des Imperialismus, Kolonialismus und der Ausbeutung zu unternehmen.

Nachdem die Pandemie die schon existierenden Hierarchien schonungslos offengelegt hat, wurde auch deutlich, wer eigentlich privilegiert genug war, die Wettarena zu verlassen und wer nicht. Hier nun liesse sich die Wendung „at stake“ verwenden, um die Evolution derart komplexer Machtdynamiken zu beschreiben – und um zu verstehen, dass man selbst, ganz egal ob nun als Hund oder Bär, doch nie eine*r von denen ist, die vom Spiel profitieren.

–Lucrezia Calabrò Visconti
(Übersetzt von Dominikus Müller)

Lucrezia Calabrò Visconti ist Kuratorin und Kunstautorin. Sie lebt in Turin, Italien, wo sie seit 2018 an der Fondazione Sandretto Re Rebaudengo arbeitete. Sie hat Ausstellungen und Veranstaltungen u. a. für das Daelim Museum, Seoul (2020), die Artissima, Turin (2019), die Fondazione Baruchello, Rom (2019), oder das De Appel und das Stedelijk Museum in Amsterdam (2017) realisiert. 2018 war sie Kuratorin der 6. Moskau-Biennale für junge Kunst, 2018 und 2019 war sie als Kuratorin für die Abteilung New Entries auf der Artissima verantwortlich. Aktuell ist sie Vize-Presidentin der AWI – Art Workers Italia.

Lucrezia Calabrò Visconti, Foto: Giorgio Perottino
Lucrezia Calabrò Visconti, Foto: Giorgio Perottino

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