Pierre-Alexandre Mateos und Charles Teyssou über "Disfiguration"

Die Kunst, die wir brauchen: eine Kugel in den Kopf. Sie reisst ein Loch in unsere eigene Subjektivität. Eine Kugel, die, statt auszulöschen und auseinanderzutreiben, einen Abgrund in unserem ureigenen Selbst aufbrechen lässt und einen Schwindel auslöst im Brunnen der Metaphysik. Pure Entstellung. Als Dostojewski und Anna Snitkina im August 1867 einen Tag in Basel verbrachten, machten sie vor Hans Holbeins 'Der Leichnam Christi im Grabe' (1921–22) im Kunstmuseum Basel ebendiese Erfahrung. Holbein hat den Körper Christi extrem abgemagert dargestellt: Die Rippen und Knochen treten deutlich hervor, Füsse und Hände sind mit Wunden übersät, alles ist blau und geschwollen – ein Leichnam, kurz vor der Verwesung. Der Anblick eines derart ausgemergelten, abgestorbenen Körpers: purer Horror. Beim russischen Autor Dostojewski schlug sich die Begegnung mit diesem Gemälde in einem Dilemma nieder, in einer Entstellung des Glaubens, die später in der negativen Epiphanie des Prinzen Myshkin in 'Der Idiot' ihren Ausdruck finden sollte: „Aber beim Anblick dieses Bildes kann ja mancher Mensch seinen Glauben verlieren!“
Genau danach suchen wir: danach, von Zweifeln befallen zu werden und alle Sicherheit zu verlieren. Das ideale Kunstwerk fusst nicht in der Realität, es drängt sich ihr auf. Und zwar nicht so sehr im Sinn einer immateriellen Wahrheit, sondern eher in Form eines gesunden Illusionismus. Dann hätte man es mit einem dramatischen Verlust des Selbst zu tun, mit einer kataraktartigen Zerrüttung. Kunst, das wäre die Schlägerei beim Ausgehen Samstagnacht, wäre eine Opioid-Vergiftung, die Selbstzerstörung, ein Autounfall, ein unverantwortliches Tempo, Kunst, das wäre: Benommenheit angesichts der Schönheit einer seltsamen und kranken Welt. Kunst ist die persönliche Suche nach emotionaler Begeisterung ebenso wie eine turbulente und glückliche Moral. Dieser Prozess ähnelt einer Entstellung, in deren Verlauf etwas einmal Bekanntes bald nicht mehr wiederzuerkennen ist. Die Entstellung verändert, was sie berührt, statt es zu zerstören. Sie verbreitet Schrecken, nicht weil sie eine entsetzliche oder abstossende Sicht der Dinge zum Vorschein bringt, sondern weil sie die vertraute Realität pervertiert. Die Entstellung gehört nicht zu den Strategien der Furcht und des Schreckens, wie sie die Avantgarden des frühen 20. Jahrhunderts favorisierten. Oft genug nimmt sie stattdessen die Form einer altbekannten Melodie an – einer Melodie allerdings, die dem Status quo gefährlich werden kann. Kann man sich ein schillernderes Anliegen für die Kunst wünschen, als diese Festung der Wörter und Bilder zu entstellen, die unsere Realität ist?
Vom Louvre bis nach Las Vegas muss Kunst den gleichmacherischen Kräften der Kultur widerstehen, die nur flachen Konsens hervorbringen. Stattdessen muss sie ihren Beitrag leisten und kognitive Effekte auslösen – eine kritische Dosis Panik, Horror und Ekstase. Die Besucher*innen sollen eine Ausstellung zitternd und lachend verlassen wie eine Geisterbahn oder eine Cruising Area um 4 Uhr morgens. Entstellung ist, in diesem Sinne, ein gewalttätiger Angriff auf die geistliche Haltung. Sie ist allergisch gegen Distanz, Klarheit und Eindeutigkeit. Einsicht muss verloren, nicht gewonnen werden, Probleme sollten an die Stelle von Lösungen treten, die Betrachter*innen müssen blossgestellt werden, gerade dann, wenn sie sie völlig schutzlos sind. Versucht man, diese Idee in einen Ort zu übersetzen, so wäre es am ehesten eine verfallene Abtei oder ein Schloss à la Ann Radcliffe. Innerhalb dieses Gebäudes würde aus Vernunft Imagination und – während der Anwendung des Gedankens auf sich selbst – aus Imagination wieder begeisterte Vernunft. Je weiter man sich hineinwagt, desto fragiler wird man, bis irgendwann das gesamte Sein von einem Zittern ergriffen wird. In diesem Zittern treffen sich Empfindlichkeit und Verstand und fallen schliesslich in eins. Für den Kopf auf dem Leichnam Christi im Grabe liess sich Holbein von den Überresten eines Kaufmanns inspirieren, der im Rhein ertrunken war. Genau danach suchen wir: unserem Glauben ein für alle Mal entgegenzutreten mit einer Entstellung. Die Kunst, die wir brauchen: eine Kugel in den Kopf.
–Pierre-Alexandre Mateos und Charles Teyssou
(Übersetzt von Dominikus Müller)
Das Kuratoren- und Autorenduo Pierre-Alexandre Mateos und Charles Teyssou lebt in Paris. Momentan arbeiten sie an einer Ausstellung auf Grundlage des Buchs 'Tombeau pour cinq cent mille soldats' von Pierre Guyotat. Jüngst haben sie gemeinsam mit Kévin Blinderman eine bei Treize in Paris und in der Kunsthalle Bern gezeigte Ausstellung kuratiert, die Jacques de Bascher gewidmet war. In Kollaboration mit Rasmus Myrup und Octave Perrault gründeten sie 'Cruising Pavilion', eine Serie von Ausstellungen zur Verbindung von sexueller Dissidenz, Kunst und Architektur, die in Venedig auf der 16. Architekturbiennale, in New York City bei Ludlow 38 und Stockholm im ArkDes Museum zu sehen war.