Yang Zi über "Ornamentation"

„Ornamentierung“ ist der Begriff, der meiner Meinung nach den gegenwärtigen Zustand der zeitgenössischen Kunst am besten beschreibt.
Ornamentierungen findet sich auf Fließen, Stoffen und Gebäuden. Ornamente sind hochgradig stilisiert und ornamentale Motive können Tausende von Jahren überdauern. Ihre Spannbreite reicht von Wiederkennbarem wie Pflanzen und Tieren bis zu abstrakten Mustern, die seit Jahrtausenden unverändert sind. Oft haben sie symbolische Bedeutung, ob sie nun Glück bezeichnen, Reichtum oder Göttlichkeit. Ornamentierungen umgeben uns, schmeicheln sich bei uns ein und beruhigen unsere ängstlichen Nerven.
Ornamente migrieren auch. Sie überqueren Grenzen und Meere, überkommen kulturelle Barrieren. Das Paisley-Muster stammt beispielsweise aus Kaschmir, ist aber nach einer Stadt in Schottland benannt; in China wurde es als „Schweinshaxen-Muster“ bekannt, in Japan heißt es „Geschwungenes Jade-Muster“. Schon sehr früh standen die Gesellschaften überall auf der Welt miteinander in Austausch. In unserer Ära der Globalisierung und Digitalisierung hat die weltweite Kommunikation sich einfach nur verschnellert. Dieser Austausch ist nicht mehr rückgängig zu machen und schlägt sich in unseren gemeinsamen visuellen Ausdrucksformen nieder. Ornamente liefern den Beweis, dass wir in einem nichtlinearen, komplexen System leben, wo wir miteinander verbunden sind und uns gegenseitig subtil beeinflussen. Und auch wenn wir uns nicht vollständig verstehen können, so können wir uns in Form von Ornamenten doch begegnen: Ornamente bieten ein Gefühl ungebrochener Intimität.
Kunst sollte, wie eine Ornamentierung, ebenfalls schön sein; Kunst sollte von allen auf der Welt geteilt werden; Kunst sollte zwischen den verschiedenen Kulturen und Regionen zirkulieren und deren Elemente integrieren. Doch Kunst besteht heute weitestgehend aus Wiederholungen, Kunst wird heute konsumiert. Die zeitgenössische Kunstwelt funktioniert nach der Struktur einer Sprache: ihre Worte, Sätze und Paragrafen funktionieren wie Werkzeuge, an denen sich die künstlerischen Communities in den verschiedenen Teilen der Welt gegenseitig erkennen können. Und solche sprachlichen Werkzeuge sind ungemein produktiv. Wer die Grammatik und die Regeln beherrscht, der kann Meisterwerke „schreiben“ wie am Fließband und die Nachfrage des Kunstmarkts befriedigen. Kunst zu machen ist heute Finanzproduktion, und ihre Sprache ist in diesem Zuge eintönig geworden. Kunst umgibt uns heute überall: Sie ist zu etwas geworden, was sich übersehen lässt. Ganz wie eine Ornamentierung.
Als „Dekoration“ mischt sich Ornamentierung nicht auf radikale Art und Weise in die Welt ein und zeitgenössische Kunst verhält sich längst ähnlich sanft. Manchmal aber ist das notwendig, um Zensurauflagen zu umgehen: So üben sich chinesische Intellektuelle beispielsweise seit Jahrtausenden darin, ihre Ziele hinter ornamentalen Motiven zu verstecken – ebenso das Volk. Und so überleben Ornamente die Jahrhunderte: Unter eintönigen, stilisierten Oberflächen halten sich symbolische Bedeutungen versteckt. Doch nicht nur solche von Glück, Reichtum oder Göttlichkeit. Sondern auch der Hoffnung.
–Yang Zi
(Übersetzt von Dominikus Müller)
Der unabhängige Kurator Yang Zi lebt in Peking. 2020 erhielt er das erste Sigg Fellowship for Chinese Art Research, 2019 war er Teil der Jury des Huayu Youth Award und 2017 schaffte er es in die Finalrunde des Hyundai Blue Prize. Zuvor war er Kurator und Leiter des Vermittlungsprogamms am UCCA Center for Contemporary Art und der erste geschäftsführende Direktor des Beijing LGBT Center. Yang Zis Texte wurden in verschiedenen Publikationen veröffentlicht, darunter LEAP, Artforum China and the Art Newspaper China. Er ist Mitgründer des Beijing Queer Chorus.